Béla Baréyni – das letzte Interview des Genies

Ein Genie, das zum Schutzengel von Millionen wurde

Béla Baréyni – das letzte Interview des Genies: Ein Genie, das zum Schutzengel von Millionen wurde
Erstellt am 11. Juli 2019

Im August vor 80 Jahren begann ein unbekannter Ingenieur bei Daimler-Benz, der die Autowelt umkrempelte: Béla Baréyni. Er hat unter anderem die Knautschzone und die Sicherheitslenkung erfunden. Ein Genie, das zum Schutzengel von Millionen wurde. Harald Kaiser führte das letzte Interview mit dem damals 86-Jährigen im Jahr 1993.

Der Urknall fand vor 60 Jahren statt. Am 10. September 1959, einem schönen Spätsommertag, gab es bei Daimler-Benz zwei Premieren auf einen Schlag: Das erste Serienauto mit Knautschzonen vorne und hinten musste beim ebenfalls ersten simulierten Frontalunfall beweisen, dass die vordere Crashzone die Aufprallenergie absorbiert, indem sie sich im Moment des Knalls verformt. Klappt es, ist bewiesen, dass dadurch enorme physikalische Kräfte von den Insassen ferngehalten werden, die ansonsten zu schweren Verletzungen oder sogar zum Tod führen können.

Der Test lief auf einem Abstellplatz des Werksgeländes in Sindelfingen. Die Wetterbedingungen waren ideal. Laut Deutschem Wetterdienst wehte ein leichter Wind und die Temperatur lag bei 25 bis 26 Grad. Die Besatzung des Testwagens (Baureihe 220) bestand aus einer Puppe auf dem Fahrersitz und drei Sandsäcken von je 75 Kilo auf den übrigen Plätzen. Die Barriere war eine Wand aus Holzbohlen mit 17 Tonnen schweren ehemaligen Presswerkzeugen dahinter. Zum Beschleunigen auf 55 km/h diente eine Segelflugzeugschleppwinde. Im Moment des Aufpralls faltete sich die vorde-re Knautschzone planmäßig stark zusammen, während die Fahrgastzelle wie erhofft stabil geblieben ist. Damit war bewiesen, dass die Idee der Knautschzone funktioniert. Interessant ist, dass die Produktion des Typs Mercedes 220 mit dieser Sicherheitskarosserie bereits seit August 1959 lief, der Crashtest aber erst im September stattfand. Man wusste also beim Serienstart nicht, ob die eingebaute Sicherheit hielt, was sie in der Theorie versprach.

Daimler baut die falschen Autos!

Geistiger Vater der verformbaren Front- und Heckpartie eines Autos ist Béla Barényi, der vom damaligen Daimler-Chef Wilhelm Haspel persönlich eingestellt worden war – nach einem gänzlich ungewöhnlichen Bewerbungsgespräch. Barényi erklärte Haspel im Sommer 1939 nämlich selbstbewusst, dass Daimler unter Sicherheitsgesichtspunkten die falschen Autos baue und dass er wisse, wie man die besser konstruieren könne. Haspel war beeindruckt und stellte Barényi ab 1. August 1939 ein.

Die Idee der Knautschzone hatte Barényi bereits früh. Anfang der 1930er-Jahre, er war etwa Mitte 20, beschäftigte sich der gebürtige Österreicher mit dem so genannten Zellenfahrzeug – einem ersten Sicherheitsauto mit Bug-, Mittel- und Heckzelle. Damals arbeitete Baréyni als Konstrukteur bei der Gesellschaft für technischen Fortschritt (Getefo) mit wechselnden Einsätzen in Berlin und in Paris.

Welche unglaubliche visionäre Gabe Béla Barényi angetrieben hat, brachte später ein ehemaliger Büronachbar bei Daimler-Benz auf den Punkt. Ernst Fiala, selbst promovierter Ingenieur und später Entwicklungsvorstand bei VW, sagte: „Im Grunde war alles, was er denkt, patentreif“ ... „Er hat im Durchschnitt jeden Tag ein internationales Patent angemeldet.“ So steht es in Fialas Memoiren „Soviel Auto braucht der Mensch“, die 1990 erschienen sind. Es sollten im Verlaufe von Jahrzehnten mehr als 2500 Patente werden.

Sicher ist ein Auto nur, wenn es hart ist.

Doch bevor sich die Knautschzone durchsetzen konnte, galt: Sicher ist ein Auto nur, wenn es hart ist. Das war ein Irrglaube, denn er bedeutete, dass die Aufprallenergie mit fatalen Folgen an die Insassen weitergegeben wird. Dass das Gegenteil richtig war – vorne wie hinten labile Partien in der Karosserie und in der Mitte eine stabile Fahrgastzelle – skizzierte Barényi bereits 1950. Am 28. August 1952 wurde die Knautschzonen-Idee mit den drei Zellen patentiert. Der Hauptanspruch dieses Patents ist laut Originalbeschreibung „...dadurch gekennzeichnet, dass Fahrgestell und Aufbau so bemessen sind, dass ihre Festigkeit im Bereich des Fahrgastraums am größten ist und nach den Enden zu stetig oder stufenweise abnimmt“.

Die Konstruktion revolutionierte den Autobau, denn das Patent wurde von der Konkurrenz kopiert. Daimler-Benz zeigte sich angesichts der Patentverletzungen jedoch überraschend weitsichtig und ging nicht juristisch dagegen vor. Der Grund für das Verhalten: Sichere Autos aller Hersteller galten als das höhere Gut. So wandelte sich das einstige Tabuthema Sicherheit langsam zum Verkaufsargument.

Weitgehend unbekannt ist heute, dass Barényi Jahre vor Ferdinand Porsche das Prinzip des „kommenden Volkswagens“ entwickelt hat. So nannte Barényi seine 1925 angefertigte Konstruktionszeichnung der Bodengruppe. Sie enthielt bereits alle wesentlichen technischen Merkmale, die später den VW Käfer kennzeichneten: Boxermotor im Heck, Luftkühlung, die Motoranordnung hinter und die des Getriebes vor der Hinterachse.

Als zwei Schriftsteller, Herbert A. Quint und Horst Mönnich, diese Urheberschaft Anfang der 1950er-Jahre in zwei Büchern höhnisch verneinten und sie stattdessen Porsche zuschrieben, verklagte Barényi beide. Im Laufe des Prozesses gegen Quint stellte sich heraus, dass dieser Name von Porsche-Mitarbeiter Richard v. Frankenberg als Pseudonym benutzt wurde. Barényi gewann beide Verfahren, die bis vor den Bundesgerichtshof (BGH) gingen. Der „Quint“-Prozess wurde vom BGH an die Patentkammer des Landgerichts Mannheim verwiesen, das die Klage im Juli 1955 final zuguns-ten Barényis entschied. Und im Oktober 1955 kam es im Berufungsverfahren gegen Mönnich vor dem BGH zum Vergleich. Mönnich erklärte, seine Behauptungen nicht mehr zu verbreiten. Somit kam Barényi die Priorität zu, die wichtigsten Konstruktionsmerkmale des VW vor Porsche entworfen zu haben.

Der Feind etablierter Autokonstrukteure?

Hier das letzte Interview, das Béla Baréyni 1993 zu seinem beeindruckenden Lebenswerk gegeben hat. Vier Jahre später verstarb er im Alter von 90 Jahren in einem Pflegeheim in der Nähe von Stuttgart:

Herr Barényi, nachdem Sie die Prozesse in Sachen „kommender Volkswagen“ letztinstanzlich gewonnen haben, hätten Sie eine Lizenzgebühr einklagen können. Porsche bekam ja viele Jahre lang pro hergestellten Käfer fünf Mark von VW. Und mehr als 20 Millionen Stück sind gebaut worden. Mit einer Lizenzgebühr wären Sie also vielfacher Millionär geworden. Warum haben Sie auf eine Klage verzichtet?

„Ich war müde von den jahrelangen rechtlichen Auseinandersetzungen. Die Prozesse zogen sich ja über sieben Instanzen. Und ich hatte auch das Geld nicht, um weitermachen zu können. Denn VW wäre sicher durch alle Instanzen gegangen. Und das hätte mich eine Menge Geld und Nerven ge-kostet. Ferner habe ich darauf gebaut, dass die Herren ein schlechtes Gewissen bekommen und mir angesichts der höchstrichterlichen Rechtsprechung wenigstens ein Anstandshonorar zahlen würden. Das haben sie aber nicht getan. Dann habe ich die Angelegenheit nicht weiter verfolgt, weil ich vor allem Techniker und kein Geldmensch bin.“

Sie haben auch Prozesse wegen anderer Verletzungen Ihrer Patente geführt. Waren die erfolgreich?

„Ja, es waren zehn. Zum Beispiel gegen Ford. Ich habe damals 160 000 Mark dafür bekommen, weil die meine Ideen des Sicherheitslenkrades geklaut haben. Ursprünglich lag der Streitwert bei 800 000 Mark. Dass es deutlich weniger als diese Summe geworden ist, lag an den hohen Prozessgebühren, die sich wiederum am Streitwert orientierten. Und diese Gebühren konnte ich einfach nicht bezahlen. Mein Anwalt hat mir deshalb empfohlen, den Streitwert auf ein Fünftel zu senken. So habe ich am Ende eben nur 160 000 Mark bekommen.“

Wie kamen Sie auf das Thema Insassenschutz?

„Es war hauptsächlich Intuition. Ich habe mich schon als Schüler für Autotechnik interessiert. Zum Beispiel das lebensgefährliche Lenkgestänge, das es damals in allen Autos gab. Anschließend habe ich darüber nachgedacht, wie man das verbessern könnte, um das Verletzungsrisiko im Falle eines Unfalls zu reduzieren.“

Waren Sie damit nicht der Feind aller etablierten Autokonstrukteure?

„Ja. 90 Prozent der Kollegen haben den Kopf geschüttelt. Der damalige Daimler-Chefkonstrukteur Max von Wagner zum Beispiel sagte zu meinen Entwürfen laut meinem Daimler-Kollegen Karl Wilfert oft „Scheiße, Scheiße, Scheiße“.“

Was haben Sie anfangs bei Daimler verdient?

„Das weiß ich noch genau, 550 Mark brutto im Monat. Etwa ein Jahr später habe ich erfahren, dass Techniker schon 1000 Mark verdienten. Daraufhin habe ich frech das Dreifache gefordert und auch bekommen, aber in Raten über drei Jahre gestreckt. Später, im Januar 1941, zahlte mir Daimler-Chef Wilhelm Haspel überraschend 15 000 Mark. Das war Erfindervergütung.“

Trotz all Ihrer Erkenntnisse standen Sie mit dem Sicherheitsgurt auf Kriegsfuß, warum?

„Mir war er zu unbequem. Mich störte auch die Gurtlose. Damit ist der oft zu lockere Sitz des Gurtes gemeint. Automatikgurte, die sich dem Körper anpassen, gab es nicht. Meist bin ich unangeschnallt gefahren, ich hatte eine Sondergenehmigung (grinst).“

Anmerkung:
Das Gespräch mit Barényi fand am 27. Januar 1993 in seinem Haus in Sindelfingen-Maichingen statt. Er war damals 86 Jahre alt. Das Interview führte Harald Kaiser. Anwesend war auch Alexander von Seydlitz-Kurzbach, leitender Mitarbeiter der Presseabteilung von Daimler-Benz. Erstmals veröffentlicht wurde das Gespräch im Februar 2019 in dem E-Book „Béla Barényi - Das unbekannte Genie“. (ampnet/hk)

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