In diesen Tagen feiert die Daimler AG das 75-jährige Jubiläum ihrer Renntransporter. Unabhängig davon, ob man der Zählart nun zustimmen möchte oder nicht, erinnern wir uns in diesem Zusammenhang gern an den aufregendsten und schnellsten Renntransporter überhaupt. Ein Mercedes. Ohne Typenbezeichnung. Eine sensationelle Gesamterscheinung. Und er wurde allerorten nur das "Blaue Wunder"genannt. Was nicht übertrieben war...
Nicht nur die legendären Silberpfeile machten in den frühen sechziger Jahren von sich reden. Mit dem "schnellsten Renntransporter der Welt" sollte die Rennabteilung von Mercedes-Benz auch abseits der Rennstrecken für Schlagzeilen sorgen.
Unheimliche Begegnung auf der Autobahn
Stellen Sie sich mal die Autobahn Mitte der fünfziger Jahre vor. Käfer & Co. krächzten mit knapp 100 km/h Dauergeschwindigkeit über die Piste, der ein oder andere Opel Kapitän brachte es dank Sechszylinder auf berauschende 125 km/h.
Da konnte es passieren, dass so en Käfer-Pilot im Rückspiegel plötzlich ein blaues Etwas registrierte, das sich beim Näherkommen durch den Stern zweifelsfrei als Mercedes identifizieren ließ, aber mit keinem der bekannten Modell in Einklang gebracht werden konnte. Richtig ins Staunen kamen der überraschte Autofahrer, wenn dieses blaue Geschoß lässig vorüber zog! Was war denn das? Der hatte ja noch einen silbernen Rennwagen huckepack. Ein Silberpfeil? Und wie schnell war denn dieser Lastwagen? Wir können es verraten: möglicherweise 160 km/h!
Die Silberpfeile brauchen ein Transporter - aber schnell!
Der Vorstand von Daimler-Benz entschied 1952, ab 1954 wieder in den Grand-Prix-Sport einzusteigen. Also machte sich die bereits existierende Rennabteilung daran - sie hatte schon die 1952 sehr erfolgreichen Rennsportwagen 300 SL gebaut - die Pläne für den Grand-Prix-Wagen, intern als W 196 bezeichnet, Realität werden zu lassen. Parallel zu diesen Aktivitäten galt es natürlich, für den Service- und Reparaturbetrieb an der Rennstrecke einen Werkstattwagen einzurichten sowie für den Transport der Rennwagen entsprechende Lkw zu bauen.
Großer Preis von Schweden, Kristianstad, 07.08.1955. Mercedes-Benz Renntransporter "Das blaue Wunder mit einem Rennsportwagen des Typs 300 SLR (W 196 S) auf der Ladefläche.
Erfahrung ist gut, Vorsorge ist besser, und so erinnerte sich Alfred Neubauer, der legendäre Rennleiter von Mercedes-Benz, an das Jahr 1924, als die Daimler-Motoren-Gesellschaft auf seinen Vorschlag hin einen großen Mercedes-Tourenwagen zu einem Rennwagen- Transporter umgebaut hatte, um erstmals einen für Monza bestimmten Mercedes Achtzylinder-Rennwagen nicht mehr auf eigener Achse, sondern schonend "Huckepack" zur Rennstrecke zu bringen.
Die Basis bildete die 300er Limousine
So ganz genau lassen sich die Ereignisse um die Entstehung des Renntransporters heute nicht mehr rekonstruieren; sicher ist aber, dass der Wagen eine Gemeinschaftsentwicklung dieser Abteilung war. Der Ingenieur Hennige schlug schließlich vor, Rohrrahmen, Motor und Karosserie-Teile aus mehreren Fahrzeugen zu kombinieren: Den X-Rohrrahmen des 300 S als Rahmen, den leistungsfähigen Motor des 300 SL sowie Teile des "Innenlebens" des 180ers. Die Idee wurde auch von Rudolf Uhlenhaut gutgeheißen, und so gingen die Männer an die Arbeit.
Den "Schöpfern" des Renntransporters gelang die Quadratur des Kreises: Sie kreierten ein in Optik und technischer Perfektion wahrhaft einmaliges Fahrzeug. Und lieferten der Rennabteilung exakt das, was sie brauchte: Ein unvergleichlich schnelles Fahrzeug zum Transport der Rennboliden. Der X-Rohrrahmen des 300 S wird vorne und hinten verlängert, damit auf der angestrebten "Ladefläche" genug Platz für einen Mercedes-Benz Rennwagen verfügbar ist. Der SL-Motor, mit Benzin-Direkteinspritzung, bekommt seinen Platz "wie im richtigen Leben" knapp über der Vorderachse. Das Viergang-Synchrongetriebe mit Evolventen-Verzahnung ist samt Daimler-Benz Einscheiben- Trockenkupplung am Motor angeflanscht.
Dieser Motor ist der originale 3-Liter-Reihen-sechszylinder des 300 SL, der unter Berücksichtigung der Schwerarbeit, die vor ihm liegt, von 215 PS auf 192 PS gedrosselt ist. Zusammen mit dem hohen Drehmoment von 25,8 mkg bei 4700 /min erreicht der Renntransporter letztlich spielend 160 bis 170 Stundenkilometer, je nachdem, was er auf dem Buckel hat.
Ein fulminanter Mix aus diversen Mercedes-Teilen und viel Kreativität
Die Hochstgeschwindigkeit stand auf dem Kotflügel!
Während seiner "aktiven" Zeit von Mitte 1954 bis Herbst 1955, als Daimler-Benz sich vom Rennsport zurückzog, war der Renntransporter die Sensation auf den Straßen und Autobahnen Europas. Der Renntransporter entwickelte sich zum Star der Fahrerlager, wo er häufig mehr umlagert wurde als die Rennwagen. Das Gespann kam als Leihgabe auch in die Vereinigten Staaten und wurde auf etlichen Ausstellungen gezeigt. Stets sorgte es für Furore. Um seine Geschwindigkeit spannten sich Legenden, bis man schließlich an seine hinteren Kotflügel "Max. Speed 105 m.p.h." malte. Damit hörte die Fragerei auf, nicht aber das Staunen. Ende 1957 kam der schnelle Transporter zurück auf heimatlichen Boden, leicht lädiert zwar, aber immer noch in gutem Allgemeinzustand.
Das damalige Mercedes-Benz Museum sollte dem mittlerweile in die Jahre gekommenen, aber immer noch faszinierenden Unikat die wohlverdiente Ruhe bieten, zusammen mit dem dort bereits harrenden 300 SLR. Das "Zweierteam" war jedoch für die Statik des damaligen Museums zu schwer, und wegen eines geplanten Umbaus sollte zunächst auf die Ausstellung verzichtet werden So kam es, dass der einst stolze Renntransporter Frondienste im Fahrversuch leistete, bis sich seine Reparatur nicht mehr lohnte und er auf Anweisung Rudolf Uhlenhaut's im Dezember 1967 verschrottet wurde.
Nach der Verschrottung folgte die Wiederauferstehung!
Während der Bau des Renntransporters schon im "ersten Leben" ein mutiges und visionäres Projekt war, bedeutete der Plan, diesen Zeitzeugen der Mercedes-Benz Rennsportgeschichte "wiederzubeleben", fast noch eine Steigerung. Da für den Renntransporter kaum Aufzeichnungen und Pläne vorlagen, mussten diese in akribischer Detailarbeit rekonstruiert werden. Der Firma MIKA GmbH in Mölln, spezialisiert auf die Restaurierung von Kraftfahrzeugen, fiel schließlich im Auftrag des Mercedes-Benz Museums 1993 die ehrenvolle Aufgabe zu, anhand von Fotos und vorhandenen Eckdaten den Renntransporter originalgetreu zu rekonstruieren. Eine Herausforderung, die meisterhaft bewältigt wurde. Fast 6000 Arbeitsstunden stecken im wiedererstandenen Renntransporter. Nach sieben Jahren tüfteln, schweissen und entwerfen dann kommt es endlich zu einem Ergebnis.
Es war der des 300 S. Eine kleine Abweichung vom Original wurde aus Sicherheitsgründen gestattet: Die Vorderradbremsen sind die Scheibenbremsen des SL von 1989. Dafür entfiel die Scheibenbremse zwischen Kardanwelle und Differential. Alle sonstigen technischen Daten wie Motorleistung, Achskonfigurationen, Getriebeabstufungen, Außenmaße, die Schalensitze samt Bezugsstoffen, die Anordnung des Drehzahlmessers, die genauen Maße der Auffahrtschienen, entsprechen exakt denen des Originals. Einer, der das Original noch kannte, meinte bei der Vorstellung der Replik: "Wie schön, dass es ihn wieder gibt" und dabei lag jenes Vibrieren in seiner Stimme, das ein Wiedersehen nach langer Trennung begleitet.
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