Das Design-Center in Sindelfingen ist das Herzstück des Mercedes-Benz-Designs. Hier entstehen die Fahrzeuge der Zukunft. Wir durften hinter die Kulissen des eigentlich streng abgeriegelten Design-Tempels schauen.
Das Design eines zukünftigen Mercedes-Modelles ist eines der bestgehüteten Geheimnisse in der Automobilbranche. Entsprechend sind die Sicherheitsvorkehrungen rund um das Designcenter in Sindelfingen. Umso bemerkenswerter ist die Einladung zum Workshop "Design Essentials", zu dem Hausherr Gorden Wagener handverlesene Journalisten in seine heiligen Hallen lud. Bereits bei der Anreise kam man nicht umhin, die Bedeutung dieses Events zu registrieren. Nach der Einfahrt per Shuttle ins Werk stieg vor einem weiteren, stark gesicherten Tor in jedes Shuttle ein stark nach Secret Service Agent aussehender Werksschutz-Mitarbeiter, der die Insassen genau im Auge behielt. Nach der Ankunft im Center durften wir sogleich sämtliche Geräte, die über eine Kamera verfügen, am Checkin abgeben. Die folgenden 5 Stunden kamen so einem unfreiwilligen "Digital Detox" gleich. Allzu oft wanderte die Hand vergeblich in die Hosentasche, wo sonst das allgegenwärtige Smartphone steckte. So konnte man sich voll auf die eigenen Sinneswahrnehmungen konzentrieren und aufsaugen, was die Designer den anwesenden Journalisten präsentierten.
Hausherr Gorden Wagener, der wegen einer Sportverletzung auf Krücken anrückte, ließ es sich trotzdem nicht nehmen, persönlich seine Design-Philosophie darzulegen. Kern dieser Philosophie ist "Sensual Purity", was übersetzt soviel wie "Sinnliche Klarheit" bedeutet. Unter diesem Überbegriff wird die Designgrundlage für jede der vier Submarken entwickelt. Dabei gilt ein strenger Design Code mit sechs Richtlinien.
Die sechs Guidelines des Design Codes
Unexpected Moments
Mit ihrem Design schaffen die Mercedes-Benz Designer hochemotionale Erlebnisse und positive Überraschungsmomente: Freude am Unerwarteten, Außergewöhnlichen, Erhabenen. Durch „Unexpected Moments“ gestalten die Designer Ikonen und inszenieren diese sinnlich.
Stimulating Contrasts
Die ästhetische, gestalterische Auseinandersetzung im Umgang mit Materialität, Farbigkeit und formaler Ausprägung entspricht der Bipolarität
der Marke Mercedes‑Benz. Emotion und Intelligenz sind die Pole, in deren Spannungsfeld die Designer bewusst die „Harmonie der Kontraste” suchen
und stimulierende Kontraste erzeugen.
Stunning Proportions
Gutes Design basiert auf beeindruckenden Proportionen, da durch sie Kraft, Harmonie und Stimmigkeit ausgedrückt wird. „StunningProportions“ stehen im Fokus der Arbeit der Mercedes-Benz Designer.
Freeform & Geometry
„Freeform&Geometry“ ist Ausdruck einer skulpturalen, dreidimensionalen Flächengestaltung: Klare, erfassbare Grund-Geometrien liegen der
Mercedes-Benz Formgestaltung zugrunde und werden durch sinnliche, skulpturale Flächen perfektioniert.
Significant Graphics
Durch „Significant Graphics“ machen die Mercedes-Benz Designer Präzision, Refinement und Hightech optisch erlebbar. Sie stehen in spannungsreichem Wechselspiel mit den sinnlichen Formen. Raffiniert gestaltete, präzise Details setzen somit Akzente in die sinnlich-skulptural gestalteten Fahrzeugkörper.
Natural Attraction
Körperhaft anmutende, spannungsvoll-muskulös modellierte Formen sowie natürliche Reize, haptisch erfassbare Materialien, Farben und Stimmungen erzeugen „Natural Attraction“ und bieten ein sinnliches Erlebnis.
Designprozess
Von der Idee zum fertigen Auto
Innovationsfreude und Liebe zum Detail zeichnen die Arbeit eines Designers aus. Von den ersten Ideen bis zur Modellabnahme vergehen Jahre, in denen das Designteam gemeinsam Schritt für Schritt das endgültige Fahrzeug erschafft. Aus diversen, zunächst konkurrierenden Entwürfen entsteht im Team die nächste Generation eines Mercedes-Benz. Der Designprozess ist ein fester Bestandteil des Entwicklungsprozesses.
Die Designer arbeiten eng mit Forschungs-, Entwicklungs- und Fertigungsbereichen zusammen, stimmen Fahrzeugdimensionen, Materialkonzepte und Herstellungsverfahren ab und stellen dadurch
auch die Produzierbarkeit sicher.
Der Designprozess: Schritt für Schritt
Zeichnung/Rendering: Am Anfang des Designprozesses steht immer eine Idee, aus dieser folgt eine Zeichnung. Ob auf dem Skizzenblock oder am Bildschirm – Ideen, die bisher nur im Kopf des Designers existierten, werden sichtbar. Aus der Vielzahl der entstandenen Skizzen werden die besten und vielversprechendsten ausgewählt.
Package: Die Grundlage für jedes Design ist das so genannte Package, die Summe aller geometrischen Vorgaben. Auf dieser Basis werden die Skizzen so umgesetzt, dass Dimensionen, Proportionen und Linienführung ein stimmiges Gesamtbild ergeben.
Virtuelles Modell: Um die tatsächliche räumliche Wirkung beurteilen zu können, werden ausgewählte Entwürfe sowohl als detailgetreue 1:4-Tonmodelle gefertigt als auch virtuell in Daten dargestellt. Mit Hilfe der Powerwall – einer überdimensionalen multimedialen Projektionswand, auf der die Designer ihre Entwürfe aus verschiedenen Perspektiven betrachten und analysieren können – werden diese virtuellen Modelle visualisiert. Man kann sich das Auto in der richtigen Größe vorstellen und unter anderem die Geometrie, Farbe und Textur auf einen Klick verändern. Tonmodelle und Datenmodelle haben beide ihre Vorzüge, wobei die virtuelle Welt die maßstabsgetreue Modellierung bis heute nicht ersetzen kann.
1:4-Tonmodelle: Nicht alles kann perfekt am Computer simuliert werden, daher werden bei Mercedes-Benz parallel zu virtuellen Modellen im weiteren Verlauf von jeder Variante eines neuen Automobils auch Tonmodelle angefertigt. Erst jetzt können die Designer entscheiden, ob ihre Entwürfe auch in drei Dimensionen die gewünschte Wirkung entfalten.
1:1-Modell: In Handarbeit werden alle Details des neuen Modells gestaltet, so dass eine täuschend echte Form entsteht. Alle charakteristischen Merkmale des neuen Autos kommen zum Vorschein. Mit Hilfe von optischen Messinstrumenten und Fräsmaschinen entsteht so der erste Prototyp in voller Größe.
Modellauswahl: Aus zahlreichen Varianten werden die vielversprechendsten Themen ausgewählt und im Maßstab 1:1 umgesetzt.
Interieurskizzen: Auch für die Innenraumgestaltung werden im ersten Schritt Zeichnungen und Renderings erstellt. Hier entstehen die verschiedenen Ausstattungspakete bzw. Lines, also das Interieur, in dem sich der künftige Fahrer wohlfühlen soll.
Interieur-Tonmodell: Am besten erlebt der Designer die Formentwicklung im 1:1-Tonmodell, das gewissermaßen von innen heraus aufgebaut wird. Alle Details werden ausmodelliert, bis ein ästhetisch hochwertiges Raumgefühl entstanden ist. In der Regel werden mehrere alternative Interieurs aufgebaut, um zu entscheiden, welches Konzept weiter verfolgt wird.
Color &Trim/Bedien- und User Interface-Konzepte: Materialien und Farben für das Interieur werden ausgewählt. Aus Hunderten von Stoff- und Ledermustern sowie Farben werden die Ausstattungsvarianten für das künftige Automobil festgelegt. Alle Bedien- und Anzeigenelemente sowie Telematikoberflächen werden gestaltet und im Sinne eines ganzheitlichen Interieurs aufeinander abgestimmt, sodass sie aus einem Guss wirken.
User Experience: Digitale Innovationen erfolgen in extrem schnellen und kurzen Entwicklungszyklen. Sie erfordern daher größte Agilität sowie neue Denk- und Arbeitsweisen. Der Entwicklung der User Experience liegt ein gedanklicher Dreischritt zugrunde: Gemeinsam mit UX-Ingenieuren skizzieren die UX-Designer zunächst, wie die Interaktion zwischen Mensch und Maschine aussehen soll. Das Ziel ist, ein einfaches, intuitiv begreifbares und zugleich emotionales Nutzererlebnis zu schaffen. In einer separaten Gestaltungsphase entwerfen die Designer die grundsätzlicheÄsthetik in stilistischerVarianz. Dabei schaffen animierte dreidimensionale Objekte im Raum ein intuitives und zugleich emotionales Erlebnis. Eine Verschmelzung aus Funktion und Visual Design wird dann in der Implementierungsphase programmiert und umgesetzt. Während aller Phasen wird das entwickelte Konzept in iterativen Verfahren unter Mitwirkung einer Vielzahl an Probanden getestet, überarbeitet und erneut getestet. Dafür nutzen Designer und Ingenieure zum einen statische Modelle, so genannte Sitzkisten. Zudem kommen dynamische Prototypen der Serienfahrzeuge zum Einsatz. In ihnen wird geprüft, ob die Bedienung auch unter Realbedingungen einfach und intuitiv funktioniert, etwa bei wechselnden Lichtstimmungen und Geräuschkulissen sowie in unterschiedlichen Verkehrssituationen.
Ausstattungsmodelle: Alle Materialien und Farben werden an einem aufwändig hergestellten 1:1-Innenraummodell in Seriengeometrie dargestellt und ermöglichen somit die ganzheitliche Bewertung des Interieurs bezüglich der Geometrie und der Oberfläche.
Finales Modell: In Handarbeit werden das Exterieur und das Interieur mit ihren Einzelheiten in einem Modell vereinigt. Ein täuschend echtes Abbild entsteht. Alle charakteristischen Merkmale des neuen Autos kommen zum Vorschein. Die äußere Form des künftigen Mercedes-Benz Modells wird für alle angrenzenden Bereiche begreifbar.
Serienoberflächendaten: Das final vom Vorstand bestätigte Designmodell wird in einem letzten Prozessschritt in 3D-Daten beschrieben, den so genannten „Class-A-Daten“. Anhand dieser Daten können im Anschluss sämtliche Werkzeuge, die zur Produktion des Fahrzeugs benötigt werden, gefertigt werden. Dabei wird größten Wert auf präzise gestaltete Fugen, harmonische Flächenverläufe und ideale Spiegellinien gelegt.
Datenkontrollmodell: Um die Class-A-Daten unter realen Gesichtspunkten bewerten und die Form weiter präzisieren zu können, werden diese an einem Datenkontrollmodell exakt gefräst. Sowohl formale als auch technisch notwendige Änderungen führen zu einer Aktualisierung der Daten. Das resultierende Modell stellt bezüglich seiner Oberflächenqualität quasi das erste Serienfahrzeug dar und dient als Grundlage für die Serienproduktion.
Jede Sub-Marke ein eigenes Gesicht!
Wie diese einzelnen Design-Guidelines für die verschiedenen Sub-Marken Mercedes-Benz, Mercedes-AMG, Mercedes-Maybach und EQ umgesetzt werden, stellen wir euch in einerkleinen Serie in den kommenden Wochen vor.
Gorden Wagener im Interview
Zu guter Letzt sprachen wir mit dem Vater des modernen Mercedes-Designs, dem Chief Design Officer der Daimler AG Gorden Wagener.
Herr Wagener, in den letzten Jahren haben Sie mit Ihrem Team das Design der Daimler-Marken neu ausgerichtet und dabei Impulse für die gesamte Branche gesetzt. Was ist das Geheimnis Ihrer Designsprache?
Wir arbeiten seit 2009 bei Mercedes-Benz mit und an der Design-Philosophie der Sinnlichen Klarheit und haben sie seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Mit ihr bringen wir einen wesentlichen Aspekt unserer Marken – die Bipolarität aus Intelligenz und Emotion – auf den Punkt. Gutes Autodesign gehört untrennbar zur Inszenierung jeder unserer Marken, vor allem, wenn sie deren Tradition in die Moderne überträgt. So haben wir den traditionellen Luxus von Mercedes-Benz in einen modernen Luxus überführt, die Marke mit dem Stern neu interpretiert und auch für junge Kunden faszinierend, erlebbar und vor allem begehrenswert gemacht.
Welche Rolle spielt bei Ihrer Arbeit das Kundenfeedback?
Wir hören genau zu, was unsere Kunden über unsere Marken und Produkte sagen. Heute möchte der Kunde mit Designprodukten vornehmlich seine eigene Persönlichkeit unterstreichen und seinen eigenen Lifestyle präsentieren. Es geht also um die Untermalung der eigenen Individualität
und auch um das Selbst-Belohnen und Gönnen des Besonderen. Eine der wesentlichen Aufgaben meines Designteams ist es, beim Kunden dieses Verlangen zu wecken und mit den Produkten auch einzulösen. Von der emotionalen Wirkung unserer Produkte soll sich jeder angezogen fühlen, denn bevor der Kunde von Innovationen oder Technik erfährt, wird schon allein durch das Design Begehrlichkeit geweckt. Dafür gestalten wir ein ganzheitliches Erlebnis für denKunden.
Wie viel Design muss denn am Ende für den Kunden sein?
Für uns ist Design vor allem die visuelle und haptische Ausprägung der Marken und ihrer Werte. Design ist gleichsam ein Ausdruck der Seele der Marken, unserer Inspirationen und der Rückmeldungen unserer Kunden. Das Ziel unserer Arbeit ist, ein konsistentes, erkennbares Erscheinungsbild und eigenständige Markenwelt zu erschaffen. Und zwar überall, wo Kunden und die Öffentlichkeit dem Unternehmen, seinen Marken und Produkten begegnen – egal ob im Fahrzeug, im Retail oder online. Also ist Design überall da richtig und wichtig, wo es dem Kundenerlebnis unserer Marken dient. Hier arbeiten wir eng mit unseren Kollegen im Marketing und in der Kommunikation zusammen und investieren viel Zeit und Mühen in diese Aufgabe.
Wohin entwickelt sich Ihre Design-Philosophie weiter?
Luxus ist der zentrale Begriff für unsere Arbeit. Es geht uns dabei weniger um materielle Werte, sondern um ein authentisches, emotionales Erlebnis und höchste Ästhetik. Daher haben wir für Mercedes-Benz und seine Sub-Marken jeweils eine eigenständige Marken-Ästhetik definiert, abgeleitet aus unserer Design-Philosophie. Wir wollen für unsere Kunden ein ganzheitliches Erlebnis aus dem Dreiklang Marke, Produkt und Digital schaffen. Dabei inszeniert Design die Marken, es bestimmt mit begehrenswerten Produkten das Markenerlebnis und schafft Verbindungen zwischen der realen und digitalen Welt, die sich dem Kunden intuitiv erschließen.
Wie schaffen Sie diese Marken-Ästhetik?
Um Komplexes einfach zu machen, braucht es zuerst vielschichtige Denk- und Arbeitsweisen, die im zweiten Schritt auf einfache Botschaften und Eindrücke reduziert werden. Und natürlich eine hoch motivierte und gut ausgebildete Mannschaft, die aus Kundensicht denkt. Wir haben im Dialog mit unseren Marketing-Kollegen analysiert, welche DNA in den einzelnen Marken steckt: Wo kommt die Marke her? Welche Eigenschaften prägen sie? Welche Design-Merkmale sind charakteristisch? Was schätzen die Kunden an ihr? Auf dieser Basis haben wir für all unsere Marken eine jeweils unverwechselbare Ästhetik definiert. Wir kreieren so ganzheitliche Erlebnisse aus dem Dreiklang Marke, Produkt und Digital. So steht Mercedes-Benz für einen modernen Luxus, Mercedes-Maybach für ultimativen Luxus. Mercedes-AMG überzeugt mit Performance Luxus und EQ weist mit progressivem Luxus den Weg in die Zukunft.
Was sind für Sie die größten Herausforderungen beim Autodesign
für morgen?
Gerade die digitale Transformation stellt auch uns Designer vor neue Aufgaben. Ein gutes Beispiel ist die neue A-Klasse. Als erstes Modell von Mercedes-Benz erhält sie das völlig neue Multimediasystem MBUX (Mercedes-Benz User Experience). Mit der neuen MBUX Generation überführen wir unser User Interface Design in die digitale Welt. Wir transferieren somit intelligente Technologie in ein emotionales Gesamterlebnis. Einzigartig bei diesem
System ist seine Lernfähigkeit dank künstlicher Intelligenz. MBUX ist individualisierbar, mit natürlicher Sprache zu steuern und stellt sich auf den Nutzer ein. Es schafft so eine emotionale Verbindung zwischen Fahrzeug, Fahrer und Passagieren. Mit MBUX haben wir komplexe Bedien- und Steuervorgänge soweit reduziert, dass der Mensch sich intuitiv und ohne Eingewöhnung mit dem System verständigen kann. Das Design übernimmt dabei die Funktion des Übersetzers.
Welcher Trend wird aus Ihrer Sicht der dominierende in naher Zukunft sein?
Der Innenraum jedes Automobils wird in Zukunft enorm an Bedeutung gewinnen, er wird zum „thirdplace“, neben dem „home“ und dem „office“. Auch hier ist die A-Klasse das beste Beispiel: Wir haben eine einzigartige neue Raumarchitektur im Innern geschaffen, vor allem durch die avantgardistisch gestaltete Instrumententafel. Erstmals wurde komplett auf eine Hutze über dem Cockpit verzichtet. Dadurch entsteht ein einzigartiges, bisher nicht erlebbares Raumgefühl, das Wohlfühlatmosphäre ausstrahlt und die Insassen in ihren Bann zieht. Die A-Klasse veranschaulicht das, was wir Interieur 2.0 nennen.
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