Der weiße Mercedes-AMG C63 gibt sich zunächst völlig unauffällig. Dabei ist hier vieles anders. Erster Hinweis: Das Lenkrad lässt sich nicht verstellen. Aber man kann ja den Sitz etwas in Richtung Lenkrad verschieben. Spätestens beim Blick in den Kofferraum wird dann aber klar: Hier handelt es sich um keinen normalen C63. Im Gepäckabteil sitzen zwei Steuergeräte, eines für den Lenk-Aktuator und eines für den Feedback-Aktuator. Dazu kommt eine zweite Batterie für das Bordnetz, ein Spannungswandler für die Versuchsfahrten und schließlich ein Datenaufzeichnungsgerät. Hinten fährt der C63 also einen Elektronik-Baukasten spazieren, vorn fehlt ihm dafür die Lenksäule. Die Lenkbefehle werden elektronisch über einen Aktuator am Lenkgetriebe übertragen.
Ein kalter Wintertag auf der Schwäbischen Alb, dazu 476 PS, Heckantrieb – und ein neues Lenksystem. Da kann einem schon etwas mulmig werden. Aber Alexander Uphoff, Leiter Systementwicklung beim Joint Venture Schaeffler-Paravan, beruhigt: „Diese Technik wird seit 20 Jahren in Behinderten-Fahrzeugen erprobt. Das System ist über 9000-mal verbaut und hat mittlerweile über eine Milliarde Kilometer problemlos zurückgelegt. Außerdem ist alles dreifach abgesichert.“
Es kann also eigentlich nichts passieren. Trotzdem habe ich im Hinterkopf: Behinderte fahren vielleicht doch eher etwas passiver, vielleicht auch mit etwas weniger Leistung. Der Achtzylinder bollert los. Erster Gang und ans Gas. Beim ersten Lenkmanöver stören Schabgeräusche. Uphoff: „Das liegt daran, dass wir das Feedback der Lenkung ins Lenkrad noch mit einem Riementrieb übertragen. Das soll über den Winter behoben werden.“ Niedrige Temperaturen sind offensichtlich nicht das Metier der neuen Lenkung. Die Lenkkräfte sind zunächst ungewöhnlich hoch und auch die Rückstellung klappt noch nicht perfekt. Uphoff: „Wir haben hier noch etwas viel Kunststoff verbaut.“ Und der braucht eine gewisse Betriebstemperatur.
Aber schon nach wenigen Metern fühlt sich alles normal an. Man dreht am Lenkrad und das Auto bewegt sich in die gewünschte Richtung. Also rauf auf die Landstraße. Wir lassen die 476 PS laufen. Von den Schleifgeräuschen ist nichts mehr zu hören. Der Achtzylinder hat jetzt das akustische Kommando übernommen.
Auf der kurvigen Landstraße fällt jetzt allerdings auf, dass die Lenkung beim Anlenken aus der Mittellage heraus noch etwas gefühllos wirkt. Uphoff: „Lassen sie sich nicht täuschen, die Räder lenken ein, aber das Feedback kommt noch etwas verzögert.“ Ansonsten fällt auf, dass eigentlich nichts auffällt. Der C63 schnürt sauber geradeaus, lenkt willig ein, die Lenkkräfte entsprechen dem abgespeicherten Muster und auch das Feedback der Lenkung, also das Gefühl, wie die Vorderräder Grip aufbauen, ist okay.
Eine gute Lenkung sollte dem Fahrer eigentlich in keiner Fahrsituation negativ auffallen. Bei langsamer Fahrt sollte sie leichtgängig und direkt sein, bei ansteigendem Tempo dürfen Lenk- und Haltekräfte etwas ansteigen, die Lenkung darf dann etwas indirekter reagieren.
Auf einer Asphaltfläche in Pfronstetten-Aichelau hinter der neuen Werkhalle von Schaeffler-Paravan kann man mit dem C63 etwas spielen. Uphoff verstellt vom Beifahrersitz aus mit dem Laptop die Charakteristik der Lenkung – variiert die Übersetzung, die Lenkkräfte und die Lenkdynamik. Der Verstellbereich geht von null bis 20. Eins ist der Serienzustand. Wir bewegen uns zwischen 1,2 und 1,7. Die Lenkung reagiert nun deutlich direkter, der C63 wirkt dadurch noch handlicher.
Und Uphoff denkt bereits an die nächsten Schritte. Beispielsweise könnte man beim DTM-Rennen auf dem Norisring für die Spitzkehre nach der Start-und Ziel-Geraden die Lenkung per Knopfdruck extrem direkt schalten. Von Anschlag zu Anschlag sind es normal 2,5 Lenkrad-Umdrehungen. Die Norisring-Kehre ließe sich dann wohl mit einer halben Umdrehung meistern.
Überhaupt spielt der Rennsport bei der Entwicklung von Steer by wire eine wichtige Rolle. „Zunächst hat man die Technik etwas abgewertet, weil sie aus dem Behinderten-Bereich kommt – und da wird ja sowieso nur langsam und vorsichtig gefahren“, erklärt Klaus Graf, Rennfahrer und mittlerweile Mitglied der Geschäftsführung bei Paravan. „Deshalb erproben wir unsere Technik im Rennsport unter härtesten Bedingungen. Wir wollen den Rennsport wieder zu einem Entwicklungs-Labor für die Serie machen.“
Die Lenkung ohne Lenksäule wird längst in diversen Rennserien eingesetzt. Sie hat das 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring klaglos überstanden und in der höchsten Tourenwagen-Kategorie, in der DTM mit einem Podiumsplatz am Norisring im vergangenen Jahr ein Highlight gesetzt. Graf: „Wir sind konkurrenzfähig.“
Und deshalb strebt man in Pfronstetten nach Höherem. Man denkt in einem nächsten Schritt an Le Mans und den großen Sportwagen-Rennsport. Und man arbeitet bereits an Rallye-Einsätzen, hat mit einem Ford Fiesta R5 und Armin Schwarz bei der Lausitz-Rallye bereits erste Erfahrungen gesammelt. Die nächsten Ziele sind 2023 die WRC und dann die Rallye Dakar. Speziell im Rallye- und Off-Road-Sport könnte Steer by wire entscheidende Vorteile bringen. Da Lenkrad und Räder völlig entkoppelt sind, werden Antriebseinflüsse, vor allem aber Stöße und Schläge nicht mehr ins Lenkrad übertragen.
Was bringt die Technik für die Serie?
Steer by wire ist quasi die Eintrittskarte ins autonome Fahren. Mit der neuen Technik lassen sich Innenräume künftig frei gestalten. Das Lenkrad kann man beispielsweise im Armaturenbrett verschwinden lassen, wenn man sich chauffieren lässt. Das Lenkrad könnte man auch problemlos von links nach rechts verschieben. Und man kann die Eingabe des Steuerbefehls frei wählen. Bei Paravan hat man Erfahrungen mit verschiedenen Eingabegeräten: Kurbeln zum Lenken, Schieberegler für Gas und Bremse. Zwei Joysticks für links und rechts, einer für Gas und Bremse, einer für die Lenkfunktion. Oder den Vierwege-Stick für Gas und Bremse und das Lenken.
„Diese Joysticks sind noch nicht zu Ende gedacht“, verrät Uphoff. Und er macht klar: „Diese Joysticks haben nichts mit denen aus den Computer-Spielen zu tun.“ Der Weg, den ein Joystick vom linken zum rechten Anschlag macht, entspricht der Übersetzung. Aus der Mittellage heraus lässt sich der Joystick genauso sensibel abstimmen, wie das feinfühlige Anlenken mit einem normalen Lenkrad. Für den Behinderten-Führerschein und den Umgang mit dem Joystick braucht man etwa eine bis eineinhalb Stunden Behinderten-Fahrschule. Und Uphoff versichert: „Mit dem Joystick kann man bereits nach wenigen Minuten einen Slalom fahren.“
Bis sich der Joystick durchsetzt, dürfte noch etwas Zeit vergehen. Interessant ist aber, dass ausgerechnet die Performance-Abteilungen der großen Hersteller reges Interesse an der neuen Lenkung zeigen. Ein möglicher Grund: Das autonome Fahren könnte jeden normalen Automobilisten künftig in die Lage versetzen in Grenzbereiche vorzustoßen, in denen sich bislang nur versierter Testpiloten oder Rennfahrer bewegen. Der Computer zeigt dann nicht allein die schnellste Linie auf einer Rennstrecke auf, er hilft beim idealen Bremspunkt und fängt einen ausbrechenden Sportwagen mit Geschick wieder ein.
Dabei könnte das Lenksystem künftig auch ein wichtiger Sicherheits-Aspekt werden. Nicht allein der Lenkwinkel wird in dem Force Feedback-Steuergerät erfasst, sondern auch das Grip-Niveau der Fahrbahn. Dehnmess-Streifen auf den Spurstangen und die Drehraten der Lenk-Aktuatoren werden in Abhängigkeit von Reifen- und Streckentemperatur gespeichert. Hinzu kommen die Daten von Prüfstandversuchen und von der Rennstrecke. All diese Informationen und Erfahrungen lassen auf das Grip-Niveau und die Strecken-Beschaffenheit schließen. Und noch ein wichtiger Aspekt ist nicht zu vernachlässigen: Bislang wird ein ausbrechendes Auto durch das ESP mit gezielten Bremseingriffen eingefangen. Künftig könnte hier zusätzlich die elektronische Lenkung korrigierend eingreifen.
Und was passiert mit dem Lenksystem, wenn man gegen einen Randstein prallt oder heftig in ein Schlagloch rumpelt? Uphoff: „Dafür wird es einen mechanischen Anschlag geben.“ Und dann stellt sich noch die Frage nach dem klassischen Lenkradschloss? Uphoff: „Braucht man nicht. Bei einem abgestellten Fahrzeug gibt es ja keine Verbindung zwischen Lenkrad und Lenkgetriebe.“ Und wie kann man dann Drive-by-wire-Fahrzeug abschleppen? Uphoff: „Ein selbsthemmendes Getriebe stellt sicher, dass die Räder bei ausgeschalteter Zündung geradestehen.“
Und was sind die nächsten Schritte in Richtung Serie? 2018 hat Roland Arnold, der Mann hinter Drive by wire, seine Technik an Schaeffler verkauft und zusammen mit dem Zulieferer Schaeffler-Parvan gegründet. Gemeinsam will man die Industrialisierung der elektronischen Lenkung vorantrieben. Bislang sind Prototypen mit dem Steer by wire-System unterwegs. Bis 2024/2025 will man zusammen mit Herstellern in die Kleinserien-Produktion einsteigen. 2026/2027 soll die Technik dann in die Großserie Einzug halten. Bislang fährt man zwar ohne Lenksäule, aber immer noch mit dem normalen Lenkgetriebe. Dies soll sich im nächsten Schritt ändern, denn dann sollen Aktuatoren die Räder einzeln steuern. Bis dahin wird wohl noch etwas Zeit vergehen.
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